Heute wollen wir uns mit zwei Fragen befassen:
- Decken irdische Kulturen den gesamten Raum möglicher Kulturen ab?
- Welche Rolle spielen Umweltbedingungen für die Stabilität und Vielfalt kultureller Systeme?
Nehmen wir an, es gäbe bereits ein funktionierendes Kultur-Koordinatensystem mit einer Reihe von Dimensionen. „Funktionierend“ wäre dadurch definiert, daß sich alle irdischen Kulturen sinnvoll in diesem Koordinatensystem abbilden lassen.
Die Frage lautet jetzt: Wie ist die Gesamtabdeckung? Nehmen diese irdischen Kulturen den gesamten Raum ein, oder gibt es „unbewohnte“ Bereiche? Falls ja, wodurch zeichnen sie sich aus – sind ihre Achsenwerte in irgendeiner Weise unsinnig, inkonsistent, widersprüchlich oder anderweitig „lebensfeindlich“?
Diese Fragen beziehen sich auf die Verbindung zwischen kulturellen Dimensionen und der Umwelt, in der jede Kultur existieren muß und die nicht oder nur teilweise unter Kontrolle der kulturellen Akteure – also der jeweiligen Staaten oder Gesellschaften ist. Diese Verbindung, der Grad von „teilweise“, ist selbst wieder dynamisch. Harari hat das in „Homo Deus“ auf den Punkt gebracht: Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte zunehmender Unabhängigkeit des Menschen von direkten Umwelteinflüssen. Noch vor wenigen hundert Jahren konnten einige Mißernten die Lebengrundlagen ganzer Großregionen und damit die Stabilität der in ihnen existierenden Gesellschaften in Frage stellen. Betrachtet man Kulturen als eine Art Betriebssystem mit darin kodiertem Know-how, dient vieles davon dem Ressourcenmanagement zum Zweck des Überlebens. Die grundlegenden Notwendigkeiten gibt es natürlich immer noch – jemand hat einmal geschrieben, daß jede Zivilisation nur wenige fehlende Mahlzeiten von Barbarei entfernt sei -, doch sind entsprechende Prozesse in Funktionsschichten gekapselt, die nur noch einen Bruchteil gesellschaftlicher Ressourcen und Aufmerksamkeit benötigen.
Langer Rede kurzer Sinn: Der Bereich sinnvollen Funktionierens und von Stabilität kultureller Systeme hängt auch von Kompetenzen ab, für die eine Kultur sicher das Substrat ist – beziehungsweise, die sich nur unter bestimmten kulturellen Bedingungen entwickeln können (– man denke hierbei an das Verhältnis zwischen Kirche und Wissenschaft während langer Teile europäischer Geschichte. Es gibt jedoch keine direkte strukturelle Beziehung in Form von Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Kulturelle Normen, die unter den Bedingungen von Jäger-Sammler-Stammesgesellschaften selbstmörderisch gewesen wären – etwa in Bezug auf die Rechte und Pflichten des Individuums gegenüber der umgebenden Gesellschaft – sind in westlichen Gesellschaften ohne weiteres stabil (auch wenn man hier vermuten darf, daß auf Dauer Erosionsprozesse anderer Art wirken).
Ein paar Beispiele für ein hypothetisches “oberes” Ende der Skala sind Gesellschaften, wie sie etwa in “The dancers at the end of time” von Michael Moorcock (siehe The Dancers at the End of Time) oder in “Glass House” von Charles Stross (siehe Glasshouse (novel)) beschrieben werden. Hier haben die Menschen quasi komplette Kontrolle über die gesamte Umwelt, müssen sich also mit praktisch keinerlei begrenzenden Faktoren ihrer Umwelt arrangieren.
Kommen wir nun zurück zur Eingangsfrage nach der Abdeckung des Raums aller überhaupt sinnvoll denkbaren Kulturen. Hier ist eine grafische Verdeutlichung in Form eines zweidimensionalen Koordinatensystems nützlich. Wir wählen abstrakte Achsen mit fixem Wertebereich; konkrete Dimensionen aus dem Raum, den wir später für die Definition von Kulturen verwenden wollen, würden nur dazu einladen, in hier nicht relevante Themen abzuschweifen. Die Menge aller überhaupt möglicher Kulturen wäre also die Gesamtfläche; jede irdische Kultur wäre durch eine Teilfläche beschrieben. Warum eine Fläche und kein Punkt? Weil wir annehmen, daß die Attribute realer Kulturen auch eine gewisse Verteilung haben, daß also nicht alle Individuen exakt die gleichen kulturellen Einstellungen haben.
Würde man nun alle irdischen Kulturen in diesem Achsensystem darstellen – eine Fleißaufgabe, die wir nicht vorhaben tatsächlich durchzuführen – ergäben sich Bereiche mit hoher Abdeckung, aber vermutlich auch Gebiete mit geringer oder gar keiner Abdeckung durch eine bekannte irdische Kultur. Was drei Gründe haben kann. Entweder existiert eine solche Kultur, ist uns aber nicht bekannt. Vielleicht ist eine Kultur mit diesen Eigenschaften unter irdischen Bedingungen nicht eigenstabil oder war im freundlichen oder unfreundlichen Kontakt mit anderen Kulturen nicht ausreichend widerstandsfähig (mit diesem Thema werden wir uns in einem gesonderten Artikel eingehender befassen). Oder – und das wäre natürlich in Bezug auf unser Thema „Alien“ die spannendste Variante – eine solche Kultur ist nur denkbar unter Prämissen, die von denen irdischer Entwicklungs- und Existenzumgebungen abweichen.
Fazit: Es ist plausibel, daß die Umwelt- und Ressourcenbedingungen so etwas wie einen Arbeitspunkt für das mögliche Spektrum plausibler Kulturen definieren. In einer späteren Phase ist es also durchaus denkbar, auch eine Variation dieses Arbeitspunkts zu betrachten.